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Dresdner Dichter beim Auswärtsspiel
Zu 14 neuen Gedichten von Norbert Weiß

Michael Wüstefeld

Nein, der bekennende Fußballfan und Dynamo-Dresden-Freund Norbert Weiß hat das nicht missverstanden, nichts in die falsche Kehle bekommen, hat nicht geglaubt, eine unterklassige Liga befähige neuerdings zur Teilnahme am Europapokal. Als er seinen guten Namen zur Auslosung der Paarungen, wer an welchen Ort zu verschicken sei, in den Bewerbungstopf der Sächsischen Kulturstiftung gab, wusste er genau, auch wenn sich sonst Vieles um Fußball dreht, dieses Mal dreht sich der Ball um Literatur. Seit wenigen Jahren erst, aber immerhin, werden sächsische Dichter und solche, die es werden wollen, zu Heimspielen oder Auswärtsspielen delegiert. Das meint Stipendienorte sowohl in Sachsen als auch in Osteuropa, darunter so ideell lukrative wie das Gerhart-Hauptmann-Haus im polnischen Agnetendorf, das Edith-Stein-Haus in Breslau oder das Lenau-Haus im südungarischen Fünfkirchen. Und wer will es dem talgeborenen Norbert Weiß verdenken, daß es ihn mit Leidenschaft und vor allem eiligst gen Süden zog, zumal er jener igelhaften Ick-bün-all-hier-Spezies anzugehören scheint, die meistens irgendwohin aufbricht, wenn andere gerade erst eintreffen? Im Dresdner Tal aber ist er nicht nur als Fersengeld gebender Eilzusteller mit Burschenschnitt eine stadtbekannte Erscheinung. Man kennt ihn auch als umtriebigen Herausgeber von Literaturreihen und der Zeitschrift SIGNUM, den Blättern für Literatur und Kritik, oder als Mitautor von Lexika und Grundbüchern diverser Dichterhäuser. Aber das allein ist längst nicht alles. Neben seinen verschiedenartigen Vermittlerrollen hat er sich vor allem als Autor von Kurzgeschichten, die er im Tonfall zwischen Ossip Kalenter und Erich Kästner anzusiedeln versteht, einen Namen gemacht. Doch ursprünglich gehört er zu jener illustren Clique, die sich dem Gedicht verschrieben hat, was er jetzt einmal mehr ebenso nachdrücklich wie bibliophil unter Beweis stellt. Hatte er vor einigen Jahren für Jakob Lenz eine „Herbstreise“ unternommen, ist es dieses Mal „Eine Spätsommerreise“ zu Nikolaus Lenau.
Mit dem Wissen, wie bald schon Spätsommer und Herbst ein und dasselbe sind, tritt er in Fünfkirchen, das ist Pécs in Südungarn, zum anberaumten „Auswärtsspiel“ an. Das Lenau-Haus, eines „der ockerfarbnen Häuser / Das aus dem Ei gepellt sich öffnete“, empfängt ihn samt Papier, Stiften und rissigen Sandalen freundschaftlich, bietet ihm „Obdach … und Schutz vor Sonne, Regen, / Vor wilden und vor zahmen Tieren“. Als Weiß 1991, nach verschiedenen Verhinderungspraktiken verlegener DDR-Verleger, seinen späten Debütgedichtband „Reich und Fluchtwege der Delphine“ vorlegte, konnte daraus abgelesen werden, daß er ein Dichter ist, der von beinahe jeder Reise wenigstens ein Souvenir-Gedicht über die Grenzen schmuggelt. Dort, in seinem Debüt, findet sich auch die Attila József gewidmete und 1989 entstandene „Magdalenenpension“ / Numero 1, mit der er nun seinen neuen 15teiligen Zyklus eröffnet: „Untern Füßen / Die fliegende Fahne des Sommers“. Der historisch gewitzte Leser denkt freilich bei der Jahreszahl „1989“ daran, daß damals noch ganz andere Dinge hochzufliegen begannen, wie zum Beispiel die Schlagbäume zwischen Ungarn und Österreich. Nach Adam Ries beschließt Norbert Weiß seinen Zyklus folgerichtig mit der „Magdalenenpension“ / Numero 2: „Restliches findet sich / Zwischen der ein oder / Anderen Zeile kann sein“. Untertrieben! Von wegen „Restliches“. Denn zwischen 1 und 2 zeigt sich der Dichter einmal mehr als genauer Beobachter einer ihm auf den ersten Blick fremden Umgebung. Einerseits findet sich nahe bei Pécs die kleine Stadt Mohatsch (Mohács), wo die Ungarn am 29. August 1526 in einer denkwürdigen Schlacht vernichtend geschlagen und fortan für Jahrhunderte osmanisch besetzt wurden, was Norbert Weiß genügend historischen Hintergrund und das dem Zyklus vorangestellte Motto liefert: „Kopf hoch, so schlimm wie bei Mohatsch wird’s schon nicht kommen!“ Andererseits versteht er es, sich noch auf die kleinste Alltäglichkeit seinen Vers zu machen, den er raffiniert zwischen Ernsthaftigkeit und leiser Ironie schweben läßt, ihn aber nie an falsch verstandene, dichterische Bedeutsamkeit verliert. Da ist sein Schatten, der überallhin mit ihm geht und der ihm vertraut bleibt, auch wenn alles andere, Häuser, Gärten, Städte, noch so fremd ist. Da stehen die Angler im Ferienort Orfü auf den Stegen Spalier wie die Fische. Und wie er sich selbst vor allzu großen Höhenflügen warnt, zur Ordnung ruft, auch wenn der Dichter Weiß in besagtem Vers das Wörtchen „weiß“ mit kleinem „w“ schreibt: „Und weiß bitte bleib auf dem Teppich: Du“, das ist schon mehr als nur ein Treppenwitz.
Wer Norbert Weiß, wenn nicht als Eilzusteller, aber als immer eiligen Zeitgenossen kennt, ist erstaunt, daß Weiß als Dichter Weiß zu überraschender Gelassenheit finden kann. Da gesteht er sich ein: „Daß Stille mich umfing, die kam von innen“. Oder will: „Wenn es trocken bleibt, / Einen Stuhl in den Hof / Garten pflanzen, die Pfeife/Stopfen, den Bleistift nach / Spitzen, der Katze was flüstern“. Oder er bemerkt verwundert: „In meinen Händen halten sich die / Nachmittage warm für ein oder / Zwei Stunden“. Augenblicklich möchte man als Leser dieser Gedichte nach Südungarn reisen, sich selbst auf die Spuren von Nikolaus Lenau, Attila József oder Victor Vasarely begeben, mir Norbert Weiß „in Frühweis zu Berge“ steigen oder vorm Dante-Café sitzen.
Von Peter Marggraf wurden die Gedichte in Neustadt am Rübenberge gesetzt, mit einer Handpresse auf Bütten gedruckt, fadengeheftet und mit einem handgemachten Holzschnitt versehen. Daß es so etwas wirklich noch gibt: Bütten, Fadenheftung, Rübenberg. Das grenzt an ein Wunder.