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I libri bianchi Band 14


Peter Piontek GRAUE KÜSTE, GEGENLICHT
Gedichte
Erschienen im Frühling 2016, gesetzt aus der Palatino.
Im Buch sind Selbstportrais von Peter Marggraf
aus den Jahren 2015 und 2016 wiedergegeben.

Preis: 25 Euro zuzügl. Versand

Bei einer Bestellung ab drei Büchern der Reihe werden diese versandkostenfrei verschickt (5,00 Euro versicherter Versand).

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Die Abbildungen 

Peter Piontek Biografisches 



                                 

Wir werden geschrieben in einer Meerenge
Peter Pionteks neuer Gedichtband
mit 18 Selbstportraits von Peter Marggraf

 

Von Christine Kappe

Als ich Peter Pionteks neuen Gedichtband „Graue Küste, Gegenlicht“, soeben in der San Marco Handpresse erschienen, das erste Mal lese, geht mir der Satz: „Verschobene Zeiten, verschobene Welten, verschobene Kulissen“ durch den Kopf. Das sind die Schlagwörter, mit denen als Werkzeug ich dem Textkorpus beikommen möchte.
Zu den Bildern von Peter Marggraf notiere ich: „Anfang, Identität, Ende“. Die 18 Selbstportraits, auf denen scheinbar immer dieselbe Person zu sehen ist, entpuppen sich für mich bei genauerem Hinsehen als Variationen eines bestimmten Blickes bzw. Themas.
„Die Person als Verschiebung?“ Diese Frage unterstreiche ich und beginne die Lektüre nochmal von vorn.
Gefährlicher Anfang, ein Gedicht mit dem Titel „Glück“ zu überschreiben, aber wenn das darauffolgende Gedicht die Nuklearkatastrophe von Fukushima behandelt, ist das ein krasser Einschnitt, vor dem noch etwas kommen muss, am besten natürlich etwas positives.

Abendbrise / Junge Erbsen essen - Glück/
das Lied der Amsel

dieser Abend ohne Dauer nämlich Himmel
der Himmel hatte noch Licht der Gelb
schnabel sang sichtbar in Sicht [...]

wenn du bedenkst in welchem Zustand
in welchem Wald auf dieser Terasse unter
wildem Wein oder Knöterich oder
Rosenhag
das ganze Begrüßungspaket

Da sitzen sie und essen, ihr eigenes Glück, und das ist noch das beste, was man damit tun kann, denn seine Dauer ist nicht, nur in der Amsel, im Himmel, im Moment der Bewusstwerdung, neue Wörter schieben sich vor alte, „Rosenhag“, gibt es das überhaupt? (im Minnesang, meint meine Freundin Caroline am Telefon), erwarten wir „Hain“ klingt „Heim“ mit, aber ein Hain hätte natürlich nie einen Zaun, und dann das „Begrüßungspaket“, es stammt eindeutig aus der Jetztzeit, Zielgruppe: Neukunden, Flüchtlinge oder Babies, evtl. fühlt sich der Leser nicht angesprochen (?), rückt dies aber wieder gerade, indem er sich (& das Glück) entweder zur Zielgruppe zählt, oder aber den Begriff (um sich & das Glück) erweitert; all das sind äußerst poetische Handlungen schon in diesem ersten Gedicht.
Die Gedichte springen in Zeiten und damit auch in Welten. Die Welt der Rosenhage ist eine andere als die der Begrüßungspakete, obwohl ich für einen kurzen Moment denke, es könnte dasselbe gemeint sein mit beiden Begriffen, doch dann verschwindet diese Idee, wie ein Traum, den man nicht mehr in den Tag retten kann. Die Wörter sind also Eckpfeiler, die einen riesigen Zeitraum aufspannen für dieses flüchtige Element Glück.

Über den Toten

Kühlschrank
den toten / Kühlschrank so weiß
Kamerafahrt [...]

wie wir nach oben regnen so

regieren während
in den Höhlungen der Stadt den Auskolkungen
Kavernen / Kadavern dann nichts mehr

wie das hinweg gefegt hinweg
gestrudelt Wasser ist wie Feuer
schrecklich [...]

... Reaktorkatastrophen, egal wo und wann - schlimm genug dass es schon mehrere gab - machen uns sprachlos. Sie zeigen bloß den schlimmstmöglichen Fall, doch der tritt immer irgendwann ein. Ein Wunder, dass diese Unfälle in Geschichtsbüchern nicht denselben Raum einnehmen und so behandelt werden wie Schlachten und Kriege.
In Peter Pionteks Gedicht „Über den Toten“ wird ein ganz kleiner, alltäglicher Ausschnitt gewählt; ich stelle mir vor, in einer Küche liegt ein Toter, natürlich ist auch alles andere tot, verstrahlt (ein Wort, was mein Computer nicht kennt, ich könnte es ihm erklären, der Technik ihre Ausgeburten erklären...), die elektrischen Geräte, mit denen wir uns umgeben, das ganze Begrüßungspaket, Kühlung gab es nicht mehr... die sprachlichen Bilder explodieren nach innen, der Text mündet in der titelgebenden grauen Küste, das unnatürliche Licht in der Hölle. Hier sehen wir die verschobenen Kulissen, aufgebrochen durch unfassbare Gewalt, der Himmel ausradiert, ein Nichthimmel, hineinretuschiert.
Das Wort „schrecklich“ ist da wie ein Zitat, harmlos, nichtssagend, geäußert am äußeren Rand des Textes, um wieder in menschliche Reichweite zu gelangen.
Man muss aufpassen bei diesen Gedichten, genau hinhören, genau hinsehen, damit einem nicht Hören und Sehen vergeht. Da beschreibt ein Gedicht Abendstimmung, aber der Mond erinnert an ein Leichentuch und ist der Tod in mir oder auf der Parkbank?
Nicht Wetterphänomene sondern Wetterphilomene, und vom Marmeladenbrot tropft das Johannisbeergelee. Da hat man sich gerade in einem Bild eingerichtet und plötzlich nimmt es eine andere Gestalt an, bekommt einen haarfeinen Riss, und man denkt an ein vorangegangenes Gedicht, nämlich „Geschrieben werden“, das nicht nur die These aufwirft „Wir werden geschrieben“, sondern einem das Gefühl gibt „Ja, wir werden geschrieben“, und das gilt auch für die Selbstportraits von Peter Marggraf, „Ja, wir werden gemalt, gezeichnet, radiert“, aber nicht in einer eindimensionalen, für uns fassbaren Weise, und so könnten folgende Zeile auch Titel für diese Bilder sein:
Wer ich, er-ich oder ich-ich?
Auf diese Weise beginnen die Gedichte zu vibrieren, sich abzuheben von einer glatten Oberfläche, einem Vexierbild zu ähneln, wie eine grau Küste bei Gegenlicht.
(Und bei Philomele begegnet uns wieder die Sprachlosigkeit: Tereus vergewaltigt sie und damit sie nicht spricht, schneidet er ihr die Zunge ab.)
Eine Reihe von Texten befasst sich mit einer Reise durch Skandinavien, eine andere mit einer Reise in die Kindheit, durch den Tod der Eltern, dann gibt es Gedichte, die sich an Kunst-Installationen anlehnen, und Gedichte, die von der Lektüre Friderieke Mayröckers beeinflusst sind. Auch hier wird mit Verschiebungen in Zeit und Raum gearbeitet, in der sprachlichen Syntax, Wörter weggelassen / wiederholt / verbessert / unterbrochen. Als würde ein Bild gemalt und dann wieder durchgestrichen, um dann noch größere Leuchtkraft zu bekommen.
Da ist ein Gedicht mit dem Namen einer Meerenge überschrieben und endet damit, dass der Malstrom alle Perspektiven vernichtet.
Die Bilder von Peter Marggraf verhalten sich dazu wie Spiegel. Vorstellbar, dass der Mann, der immer so gleich auszusehen versucht, diese Texte liest, die ihm mit der eigenen Identität und dem eigenen Tod konfrontieren. Auch hier Verschiebungen. Marggrafs Bilder sind immer aufs Wesentliche reduziert. Hier sind die Augen genau, der Rest nicht ungenau, aber ausgefranst, nicht wie ein unfertiges, vielmehr wie ein im Nachhinein zerstörtes Bild und dann auch wieder wie ein Bild, in dem auch der Künstler seine Spuren hinterlässt, manchmal im Widerspruch... da sind Details filigran gezeichnet, dann mit dem Finger weitergemalt, die Struktur des Papiers scheint das Bild anzugreifen (eigentlich sollte es ja umgekehrt sein) oder ein Stift streicht in der Richtung der Haare weiter über den Körper, dessen Haltung davon verdeckt wird...
Und eigentlich muss man ja auch etwas anderes sein als ein Mensch, um das in den Texten verhandelte zu ertragen. Scheint es. Natürlich ist man nur ein Mensch und kann nicht anders als die Dinge zu ertragen, solange man lebt. Die Frage ist, wie (ertragen und leben?) Nur der Schaffensprozess selbst gibt eine Antwort. Schwarz auf weiß ist da immer etwas ausgelassen, in den Texte wie in den Bildern, die Augen sind offen, die Ränder auch. /Und ist es mir nun gelungen, die Texte mit den anfangs gestellten Fragen zu analysieren? Verschiebungen, ja, aber wohin. / Die Person als Verschiebung, in die Dinge hinein, durch die Dinge... die Textzeilen als Sedimente, in denen die Fragen wie Muscheln hängengeblieben sind, verschiedene Grautöne an der Küste, vom Wasser, erdbebendurchsickert.