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			Das Licht im Schatten 
			
 
			Gedichte von Hans Georg Bulla mit 
			einer Radierung von Peter Marggraf im 
			bibliophilen Band „Landflüchter“
 
 
			Isabel Kobus
 Am 20. Juni 2019 ist Hans Georg Bulla 70 
			Jahre alt geworden. Zeitgleich hat Peter Marggraf in der San Marco 
			Handpresse die neuen Gedichte des großen niedersächsischen Lyrikers 
			herausgegeben: Der bibliophile, großformatige Band „Landflüchter“ 
			ist im Sommer 2019 in 24 Exemplaren und vier zusätzlichen 
			Künstlerexemplaren erschienen. Das klare Schriftbild in 
			12-Punkt-Candida, in bewährter Marggrafscher Qualität auf der 
			Linotype gesetzt, mit dem Handtiegel auf Büttenpapier gedruckt und 
			mit höchster Sorgfalt gebunden, harmoniert mit der einfachen und 
			klar strukturierten Form der Gedichte ebenso wie die Radierung mit 
			dem Titel „Im blauen Schatten“, die Peter Marggraf jedem Band 
			beigelegt hat und auf die noch näher einzugehen sein wird.
 Als den „Dichter, der die Stille 
			aufschreibt“ bezeichnet Bert Strebe den Jubilar in seiner Würdigung 
			zu Hans Georg Bullas 70. Geburtstag. Stille Melancholie und die 
			Fähigkeit, Stimmungen in schlichte, aber höchst präzise Worte zu 
			fassen und damit ungewöhnliche und doch eingängige Bilder zu 
			schaffen, waren schon immer wesentliche Eigenschaften des Lyrikers 
			Hans Georg Bulla, und sie sind es heute noch. Doch in seinem neuen 
			Band findet sich auch Überraschendes – neue Töne, die deutlich 
			machen, daß Hans Georg Bulla zwar 70, aber noch lange nicht alt ist.
 Den Gedichten in „Landflüchter“ stellt 
			Bulla ein Zitat des schwedischen Dichters und 
			Literatur-Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer voran: „Im Gelände 
			draußen, nicht weit von der Ansiedlung, / liegt seit Monaten eine 
			vergessene Zeitung voller Ereignisse. / Sie altert Nächte und Tage 
			hindurch in Regen und Sonne, / dabei, eine Pflanze zu werden, ein 
			Kohlkopf, dabei, mit dem Boden eins zu werden. / So wie eine 
			Erinnerung sich langsam zu dir selbst verwandelt.“
 Das Zitat paßt so gut zu Bullas neuer 
			Gedichtsammlung, daß man meinen könnte, es sei dafür geschrieben. 
			Die Themen „Vergessen und Erinnerung“ sind stets gegenwärtig in den 
			vorliegenden Gedichten, ebenso aber auch die Verwandlungen, die 
			Tranströmer in ähnlich schlichten, aber eingängigen Bildern 
			ausdrückt, wie Hans Georg Bulla das in seiner Lyrik vermag: Die 
			Zeitung wird zur Pflanze, das Geschehene zu Erde, die Natur nimmt 
			sich all das, was für uns Menschen einst so wichtig schien. Zugleich 
			aber bleibt die Erinnerung, das Abbild all der wichtigen und 
			scheinbar wichtigen Dinge des Lebens, im Kopf des Menschen und wird 
			dort Teil der eigenen Persönlichkeit, wandelt sich zum Selbst. In 
			der Analogie dieser Verwandlungen liegt die Verbindung des Menschen 
			zum Außen: Die Zeitung mit den Worten als Sinnbild des Außen und die 
			Erinnerung als Sinnbild des Innen sind beide in ständiger 
			Veränderung begriffen. Das Ziel dieser steten Veränderung aber ist 
			ein schicksalhaftes – Verwesung und Tod stehen beiden bevor. Dieses 
			Bewußtsein ist Ursache für die tiefe Einsamkeit des Menschen, die 
			immer wieder in Hans Georg Bullas Gedichten aufscheint – doch 
			zugleich zeigt es auch den Weg auf, sie zu überwinden. Die 
			Universalität dieser Themen läßt der Dichter im vorliegenden Band 
			noch deutlicher hervortreten, indem er das lyrische Personal im 
			Vergleich zu früheren Bänden erweitert hat. Zusätzlich zur immer 
			wieder aufscheinenden eigenen Innensicht wirft er Schlaglichter auf 
			Charaktere aus verschiedenen Lebenswelten – die Tänzerin, die 
			Musiker, den Süchtigen und den Prediger, Kinder, Kranke und 
			Gebärende.
 „Baggersee“ heißt eines der schönsten 
			Gedichte in „Landflüchter“. In einem wie hingegossenen Bild evoziert 
			es ein Treffen junger Menschen am See: „Eine lange Nacht, ein 
			kleines / Feuer, die Flaschen im Wasser. / Wir im Kreis hockten auf 
			/ abgeschlagenen Stämmen (...) / das Gelächter wurde lauter“. Im 
			zweiten Abschnitt ist „der Transistor stumm geworden“, die 
			Jugendlichen begeben sich zur Ruhe: „Zwei legten sich in die / 
			Schlafsäkke auf den Boden, / zwei teilten sich die Matratze“. Und: 
			„Einer ging noch einmal / um den See und kam nicht wieder“. Ein 
			offenes Ende, wie in manch einem der hier versammelten Gedichte: Ob 
			der eine nur die Versammlung verlassen hat, ob er seinen Tod gesucht 
			hat im Wasser, oder ob der Schluß nur ein Verweis auf das Loslassen 
			scheinbar schöner Erinnerungen ist – dem Leser bleibt die Deutung 
			selbst überlassen. Die „lange Nacht“ jedenfalls, die anschaulich 
			heraufbeschworene Gemeinschaft jugendlichen Vergnügens, erweist sich 
			als ebenso vergänglich, vielleicht illusionär, wie das Schriftbild 
			der verwesenden Zeitung in Tranströmers Zitat.
 Auffällig jedoch 
			ist der Bruch in diesem Gedicht, der härter ist als manches, das man 
			aus früheren Bulla-Gedichten gewohnt ist. Dergleichen ist in diesem 
			Band auch anderweitig zu finden. So fliegt in „Im Juli“ am Ende ein 
			Vogel gegen „das blinkende Fenster“ / „in ein gläsernes Feuer“. Zwar 
			ist die Störung, das Beängstigende in diesem Gedicht schon am Anfang 
			angekündigt, als ein Hubschrauber und eine Sirene „eine Schleppe aus 
			Lärm“ über den Garten ziehen, doch im Mittelteil sorgt die Katze – 
			wie immer ein beliebter Gast in Bullas Gedichten – für die Illusion, 
			zumindest in der Natur sei alles in Ordnung – sie „streicht langsam 
			/ an den gestapelten Brettern / vorbei in ihr Versteck“.
 Der Tod des 
			Vogels im „gläserne[n] Feuer“ des sonnenbeschienenen Fensters ist 
			ein ungewöhnlich verstörendes Bild für Hans Georg Bulla. 
			Irritierender noch präsentiert sich das erste Gedicht des Bandes, 
			„Der Nachen“: Eine nicht näher definierte Gruppe von Menschen, als 
			„wir“ bezeichnet, treibt in einem Nachen durch Brackwasser, hört das 
			Heulen der Hunde, „je ferner desto lauter“, bis schließlich ein 
			grauer Bug vor ihnen auftaucht, er „teilte das Wasser, / den Nachen 
			und uns.“ Die bedrohliche Stimmung und das rätselhafte Ende – wie 
			kann ein Nachen geteilt werden und wie kann es, nach einer solchen 
			Teilung, noch ein „uns“ geben? – setzen Zeichen für diesen Band, in 
			dem Bulla immer wieder auch Verstörendes in Worte faßt, ohne dabei 
			aus seinem kunstvoll-schlichten Sprachduktus herauszufallen.
 Brillant und in einfachen Worten 
			verbildlicht Hans Georg Bulla beispielsweise die unscharfe Grenze 
			zwischen Grausamkeit und Unschuld in „Februar, auf dem Hof“: Nach 
			dem Schlachten bekommt das als „du“ angesprochene Kind eine 
			Schweinsblase als Ball, mit trockenen Erbsen darin: „Du wirfst ihn 
			rasselnd hoch / in die kalte Luft, / ein voller Mond / steht früh am 
			Himmel.“ Das Organ des geschlachteten Tieres wird zum Spielball des 
			Kindes, dessen Gefühle das Gedicht nicht thematisiert. Der volle 
			Mond gleicht in seiner runden Form dem Ball, zugleich kontrastiert 
			seine romantische Evokation aufs Schärfste mit der rasselnden 
			Schweinsblase. Wie schon in „Im Juli“ treten hier Mensch und Natur 
			in ein dynamisches Verhältnis miteinander, sie könnten Opfer sein 
			oder Täter, sie haben keine Wahl – alles geschieht mit 
			schicksalhafter Stringenz.
 Das Dramatische des Schicksalhaften, wie 
			es sich schon im Prozeß der Verwesung und Verinnerlichung im 
			Tranströmer-Zitat andeutet, spielt in „Landflüchter“ eine erhebliche 
			Rolle, und manche dieser Gedichte sind kurz gefaßte Geschichten von 
			komplexer Tragik. „Vater aus dem Krieg“ läßt in 14 Zeilen in voller 
			Wucht die innere Entfremdung einer Familie vor dem Auge des Lesers 
			erstehen: Der Vater, vom Lager zurück, schreit im Schlaf 
			unverständliche Wörter, morgens sitzt er stumm mit seiner Frau beim 
			Frühstück, und am Ende „(...) ging sie, weckte den Jungen“ – das 
			Trauma des Krieges, so ahnt man, wird hier auf einen unschuldigen 
			jungen Menschen übertragen. Ebenso wie der Vater nachts nichts mehr 
			von seinen Schreien weiß, ist das nächtliche Drama seiner Eltern 
			nicht ins Bewußtsein des Jungen gedrungen – und doch ist es seines, 
			er hat die Schreie und das Schweigen im Schlaf aufgesogen, er kann 
			diesen Eltern nicht entfliehen, die ihrerseits in ihrem Leben 
			gefangen sind. Auch und gerade die nicht bewußte Erinnerung wird zum 
			Selbst.
 Das harte Schicksal der Kinder in vergangenen Zeiten ist immer 
			wieder Thema in Bullas neuen Gedichten – das Baby in „Neugeboren“ 
			wird nicht alt werden, und „Damals im Heim“ kratzten die Decken auf 
			den blanken Armen, Gespött und Gelächter treffen den, der die Hose 
			herunterlassen muß vor dem „blonden Fräulein.“ Nicht weniger hart 
			trifft es die alten Menschen in diesem Band. Doch mit einem 
			wesentlichen Unterschied: Während die Kinder keine andere Wahl haben 
			als sich ihrem Schicksal zu ergeben, finden die alten Menschen Wege, 
			mit ihren Erinnerungen wie auch mit der Bedrohung durch Schwäche und 
			Tod umzugehen. Die „Alte Tänzerin“ holt sich zwar blaue Flecken, 
			wenn sie beim Tanz an Tischkante oder Schrankecke anstößt, doch die 
			beeindrucken sie nicht, denn „sie will nicht, daß etwas / ihr im Weg 
			war, als sie sich / eben drehte, drehte um die / eigne Achse.“ Ihr 
			Wille läßt sie nicht ruhen, ungeachtet der schmerzhaften Realität – 
			und die Erinnerung an ihre einstmaligen Fähigkeiten ist ihr zum 
			Selbst geworden, von dem sie nicht lassen kann, um das sie immer 
			wieder unbeirrbar kreist.
 Der Sterbende in „Sein letzter 
			Geburtstag“ hingegen will nach außen dringen, die Welt umfassen: 
			Einen Globus wünscht er sich, der von innen leuchtet, um den will er 
			seine Hände legen und „die Naht spüren, die / die Hälften 
			zusammenhält.“ Und das lyrische Subjekt in „Die Alleinesserin“ 
			vergißt zwar das Essen auf dem Herd und hat den Koffer an der Tür 
			stehen, falls sie eilig fort muß – aber: Sie stellt Blumen auf den 
			Tisch, streicht die Decke glatt und stellt „einen zweiten Teller 
			dazu.“ Damit hat sie einen Weg aus den Dunkelheiten des Lebens 
			gefunden: das Miteinander mit einem anderen Menschen.
 Das Miteinander ist ein wesentliches 
			verbindendes Element nicht aller, aber doch einer erheblichen Anzahl 
			von Gedichten in diesem Band. Und es setzt ein Zeichen jenseits der 
			Verstörung, das über das einführende Tranströmer-Zitat hinausweist. 
			Denn auch wenn Werden und Vergänglichkeit eins sind im Inneren wie 
			im Äußeren, so unterscheidet den Menschen doch eines von den Dingen 
			seiner Umwelt: seine Fähigkeit zum Miteinander, zur Liebe. An der 
			Gesellschaft anderer mag der Mensch scheitern, so wie am 
			„Baggersee“, oder sie mag Illusion bleiben wie in „Die 
			Alleinesserin“ oder in dem traurigen kleinen Gedicht „Schwimmen im 
			Meer“, in dem das lyrische Ich noch im Untergang einer Gestalt am 
			Strand zuwinkt, von der er wohl weiß, daß es sie nicht gibt.
 Doch wo die 
			Gemeinschaft tatsächlich geschieht, ist sie Trost, vielleicht sogar 
			Rettung. So wie in „Durchs Moor“, als das radfahrende „Du“ stürzt, 
			das „Ich“ ihm aufhilft, und „wir lagen uns / dann in den Armen.“ 
			Oder wenn in „Ende des Sommers“ die sterbende Katze noch einmal in 
			die Augen ihrer Menschen blickt, die ihr „noch ein paar / helle Tage 
			verschafft“ haben. Oder wenn das „Alte Paar“ im gleichnamigen 
			Gedicht gemeinsam auf die Schläge der eigenen Herzen hört – die 
			ausgelesene Zeitung wird, anders als im Tranströmer-Zitat, hier vom 
			Wind ergriffen, die Welt bewegt sich, die Erinnerung verweht, doch 
			das Paar bleibt sitzen: „Ein ganzes Leben / hat gereicht / den Platz 
			zu finden“. Und so können sogar die losgelassenen Erinnerungen zum 
			Trost werden, wenn sie einen geliebten Menschen evozieren. Im 
			letzten Gedicht, „Durchfahrt“, versinnbildlicht das Gedenken an 
			einen toten Freund ein Handschuh, er „ging verloren / auf dem Weg, 
			winkend / lag er dann auf einem / der hohen Steine.“ 
			Bezeichnenderweise ist es hier kein lyrisches Ich, das durch die 
			langen Reihen der Gräber geht und den Handschuh dem Grabstein 
			überläßt – es ist ein lyrisches Wir.
 Dem Band beigelegt hat Peter Marggraf 
			eine Radierung aus dem Jahr 2009 mit dem Titel „Im blauen Schatten“. 
			Vor dunklem Hintergrund zeigt sie eine kompakte Gestalt, die 
			weibliche Brüste hat, deren markanter, haarloser Kopf und deren 
			breite Schultern jedoch auch die Assoziation von Männlichkeit 
			wecken. In ihrer Haltung wirkt die Figur – eng angelegte Arme, der 
			Hals leicht im Körper versunken – verschlossen und in ihrer engen 
			Begrenzung durch den Bildrand sogar eingeschlossen, gefangen. 
			Zugleich wenden sich Kopf und Blick jedoch in die Ferne. Ein 
			angedeuteter zweiter Umriß des Kopfes deutet auf den titelgebenden 
			„blauen Schatten“ hin, dessen Blau in der Schwarz-Weiß-Radierung 
			rein symbolischen Wert hat – dieser Schatten macht zudem deutlich, 
			daß die helle Figur ihren Kopf in die Richtung gewendet hat, aus der 
			sie beleuchtet wird: Sie blickt ins Licht.
 Das in einfachen Strichen gezeichnete, 
			aber dennoch komplexe Bild trägt ähnliche Deutungsmöglichkeiten in 
			sich wie die Lyrik Hans Georg Bullas in diesem Band: das 
			Gefangensein im eigenen, durch die Schicksalhaftigkeit des Lebens 
			geprägten Ich, die Melancholie der Erinnerung, zugleich aber auch 
			das, was darüber hinausweist – die Universalität des Menschen, der 
			nie allein mit sich ist, auch wenn es ihm so erscheinen mag, und 
			dessen Blick in die Ferne immer eine Erleuchtung in sich trägt, auch 
			wenn er im Schatten steht.
 
			  
			
			
			
			
			
			
			
			
			
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