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...wenn er von mir erzählt
Welterkundung in der dritten Person

Clemens Umbrichts Gedichtband "Die Augen über dem Bildrand"

Peter Piontek

„Der, in den er sich heute verkleidet, / fährt den ganzen Tag mit der Straßenbahn. / Er schreibt mit der Hand eines Freundes / und schaut sich argwöhnisch über die Schulter“ – die Rede ist von Fernando Pessoa, dem Verwandlungskünstler, dem heteronymen Meister aus Lissabon. Clemens Umbricht porträtiert in seinem neuen Gedichtband „Die Augen über dem Bildrand“ nicht nur ihn, sondern ebenso Diogenes, Alfred Brendel am Klavier oder einen Nachbarn.
Oder die Personae dieser Gedichte bleiben gänzlich anonym, wie gleich im ersten Stück der Sammlung, das „Zwei Gedichte“ heißt und durch seine eigenartige Bauweise auffällt. In beiden Teilen des Textes wird in wenigen Zeilen ein „Er“ geschildert, ehe sie in einen identischen Schluß münden, der so lautet: „Das Gedicht hing an einem Faden, / und er hat daran gezogen. / In zwei, drei Sätzen hat es gesagt, / wofür er sonst Jahre braucht: / Jetzt steht er auf und geht.“ Von diesem „Er“ heißt es eingangs des ersten Gedichtteiles: „Er kratzte an seinen Aphorismen / wie an schuppiger Haut“. Hat man in diesen Anfangszeilen eine äußerst verknappte Verschränkung von Denken und Leben, so lassen sich die Schlußzeilen als ebenso kurzgefaßte Poetologie lesen.

Auf unsicherem Boden

Clemens Umbrichts Gedichte nehmen gerne eine Wendung ins Philosophische, die sich in aphoristischen Kürzeln oder paradoxen Wendungen manifestiert. Beispiele finden sich in jedem Gedicht. „Das Sein bestimmt das Seiende, / oder war es das Gegenteil?“ heißt es etwa in „Der Denker“. Verse wie diese sind tückisch. Sie bringen ein Moment der Verunsicherung in die Texte, machen den Boden, auf dem sich der Leser bewegt, schlüpfrig. Wer ihnen nachzusteigen versucht, wird nicht so bald wieder festen Boden unter die Füße bekommen.
Wie ein Umbricht-Text funktioniert ließe sich exemplarisch am schon erwähnten Gedicht über den Nachbarn studieren. „Er trägt schwere Schuhe / und geht im Kreis. / Er wirkt ziemlich absurd“, heißt es dort über den Dargestellten. Der Nachbar wirkt so absurd wie ein Mensch eben absurd wirkt, dem man zuschaut, ohne sein Tun ergründen zu können oder zu wissen, was er denkt. Der Autor beobachtet weiter und zieht gleichzeitig seine Schlüsse: „Er könnte alles sagen / und mit dem Gesagten weitere Kreise ziehen – aber dann geht er geradeaus.“ Und wird somit plötzlich zum Träger einer Idee – „Die Erkenntnis, die kommt, / wird ausbleiben, aber sie kommt, / wenngleich als Widerspruch. / Wenngleich, wenngleich. / Man sieht es ihm nicht an. / Man sieht es niemandem an.“

Schnörkellose Setzungen

Umbricht schreibt Gedichte in der Er-Form, wobei dieses „Er“ dann Subjekt und Objekt des Gedichtes in einem ist, sozusagen lyrisches Er anstelle von lyrischem Ich. So äußert sich ein Autor, der sich nicht lyrisch verströmt, sondern Selbsterkenntnis eher in der Auseinandersetzung mit dem Anderen sucht. Oder in seinen eigenen Worten: „Erst wenn er von mir erzählt, erzähle ich – ein bißchen – von mir.“
„Clemens Umbricht ... gehört zu den Dichtern, die wenig Aufhebens von sich machen und ganz hinter das gedruckte Wort zurücktreten“, schrieb der Schweizer Schriftsteller Jürg Beeler in den „Schweizer Monatsheften für Politik/Wirtschaft/Kultur“ über seinen Landsmann in St. Gallen, der im Brotberuf einen Verlag für Gesundheitsliteratur leitet. Umbricht hat es nicht nötig, seine Zeitgenossenschaft an der Oberfläche, durch modische Mätzchen zu beweisen. „Fast ‘kunstlos’, prosanah“ seien seine Sätze, so Beeler, dabei doch „kunstvoll und klug kalkuliert“. Und er setzt sie mit profunder Sicherheit, Zeile für Zeile, Gedicht für Gedicht. Peter Marggraf hat den Band „Die Augen über dem Bildrand“ betont nüchtern gestaltet und die Gedichte aus der Futura gesetzt, einer serifenlosen Schrift, die in ihrer Schnörkellosigkeit gut zu den Gedichten paßt.

Das Unsagbare zeigt sich

Im vergangenen Jahr veröffentlichte der Autor, dessen literarische Referenzen in Übersee zu suchen sind – er hat amerikanische Gedichte übersetzt – im Verlag Eric van der Wal den Band „Alonsos Lächeln“. Unter dem Namen Alonso stellt uns der Autor einen Magier vor, dem weiße Kaninchen ebenso egal sind wie schwarze Hüte oder Kisten. Hinter der Maske dieses ungewöhnlichen Zauberers blinzelt der Autor selbst hervor, was spätestens deutlich wird, wenn es heißt: „Natürlich läßt sich das, was er sagt / nicht sagen, jedenfalls nicht so“. Da klingt Wittgensteins Auffassung von den Grenzen des Sagbaren an. Da haben wir, folgt man Raoul Schrott, aber auch ein Kriterium für die Qualität von Gedichten, weil nur „schlechte Gedichte immer das sagen, was sie meinen“, wie Schrott im soeben erschienen „Jahrbuch der Lyrik 2006“ schreibt. Auch „Alonsos Lächeln“ eröffnet Umbricht also mit einem poetologischen Gedicht. Wie „Die Augen über dem Bildrand“ überhaupt nahtlos an den vorangegangenen Band anschließt. Wer sich Umbrichts 15 Jahre zurückliegende Sammlung „Aus ruhiger Entfernung“ danebenlegt (1988, ebenfalls bei Eric van der Wal erschienen), mag ermessen, welchen Weg er zurückgelegt hat, wie sich die Gedichte von ihren Anlässen gelöst haben und nunmehr ganz für sich selbst stehen. Clemens Umbricht hat seinen eigenen Ton gefunden. Der Dichter läßt sich mit „Benjamins Engel“ ein und berichtet aus dem „Innern des Gedichts“. Nahes und Fernes, groß und klein sind ihm eins und durchdringen sich, wie es beispielhaft das letzte Gedicht der Marggraf-Sammlung zeigt, das deshalb auch hier am Schluß stehen möge:

Auf der Pont-des-Arts

Der Stein auf dem Fenstersims
ist gestern durchs Universum gesprungen.
Heute ist er einfach nur da.

Auch wir wüßten gerne mehr, nicht wahr?
Aber der Stern, den noch niemand entdeckt hat,
war von Anfang an eine Fledermaus,

und die Augenblicke, in denen die Erkenntnis
die Erdanziehung überwand wie ein Affe
einen Lattenzaun, sind nichtig

angesichts der Krümmung des Raumes.
Wir wissen es nicht, trotz allem.
Und die Zeit, unberechenbar wie Paukenschläge:

Ob sie immer Zeit war oder nicht doch
vielleicht – einmal – ein Comic-Strip
in einem Billigladen am Rand der Milchstraße?

Und die Radioastronomie, der Jazz
und der erstaunliche kleine Außerirdische
auf der Ponts-des-Arts?