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Band 17
Franz Kafka
Ein Hungerkünstler
Vier Geschichten Erschienen im
Sommer 2016, gesetzt aus der
engen Futura. Im Buch sind Blätter aus
den Skizzenbüchern von
Peter Marggraf (1986 bis 1988) wiedergegeben.
Preis: 25 Euro zuzügl.
Versand
Bei einer Bestellung ab drei Büchern der Reihe werden diese versandkostenfrei
verschickt (5,00 Euro versicherter Versand).
Mehr Informationen und alle lieferbaren Titel finden Sie hier
►
„Die leichteste Sache von der Welt“
Franz Kafka: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten
Als es in
meinem Organismus klargeworden war,
daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines
Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle
Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden
des Geschlechtes,
des Essens, des Trinkens, des
philosophischen Nachdenkens der Musik zu allererst
richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab.
F. Kafka: Tagebuch,
3.1.1912
Von Gerd Kolter
Diese
1924 erschienene Sammlung kleiner Erzählungen ist die letzte
Veröffentlichung, die Kafka noch selbst verantwortet und die er auf dem
Krankenbett Korrektur gelesen hat. Das Buch selbst konnte er nicht mehr in
den Händen halten. Mit einer Ausnahme („Eine kleine Frau“) sind es
Erzählungen des Abschieds, des leisen Verschwindens, aber auch Variationen
über das Verhältnis von Kunst und Künstler zum Leben.
Distanz und Nähe prägen die Hauptfiguren der
Erzählungen: der Trapezkünstler, der so hoch wie möglich über dem Boden sein
und bleiben muss; der Hungerkünstler, der, zunächst zur Attraktion erhoben,
am Ende vergessen im Stroh verschwindet; die Gesangskünstlerin, deren
Pfeifen „nichts Außerordentliches darstellt“, aber dennoch gibt es
„niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt“. Alle repräsentieren sie in
verschiedenen Facetten Aspekte des Künstlertums, wie sie
Kafka selbst am eigenen Leib erlebte und
auch durchlitt. Auf der einen Seite bildet das Sich-Ausschließen aus dem
Menschen-Publikum oder gar das Sich-Erheben darüber in der Kuppel des
Zirkuszelts die Grundlage für das „Streben nach Vervollkommnung“ („Erstes
Leid“), andererseits verselbständigt es sich, wird zur „tyrannischen
Gewohnheit“, die sich vergeblich von der Zurschaustellung vor eben diesem
Publikum zu lösen versucht, eine Zurschaustellung, die aber ebenso
notwendige Grundlage und Ziel des Künstlertums ist. Der Mann am Trapez
versucht diesem Künstler-Dilemma ein Stück weit zu entgehen, indem er die
notwendigen Reisen zwischen den Auftrittsorten im Gepäcknetz (!) verbringt
und sich schließlich eine zweite Stange wünscht, um einen weiteren
Haltepunkt in der Luft zu haben. Er darf nicht herunterfallen, sich nicht
gemein machen mit der Menge, die er aber doch zur Anerkennung und zum
Überleben braucht. Bereits früher, in seiner Parabel „Auf der Galerie“,
hatte Kafka diese Dialektik zwischen schönem Schein und mühsamem Überleben
anhand der Zirkuswelt illustriert, etwa wenn hinter der „Huldigung des
Publikums“ nur zu ahnen ist, wie sehr die Beifall klatschenden Hände
„Dampfhämmer“ sind, welche die Reiterin unerbittlich vorantreiben. Eine
solche direkte Verbindung zwischen der Menge und dem (Trapez-)Künstler gibt
es hier nicht, es wird keine Aufführungssituation geschildert. Die
Aufmerksamkeit ist vielmehr nur auf den Künstler und seinen Impresario
gerichtet, der bis zur Unterwürfigkeit alles tut, um seinen Schützling von
allen störenden Einflüssen fernzuhalten.
Dieses Verhältnis wird sich in der Erzählung „Ein
Hungerkünstler“ umkehren. Der Künstler ist für seinen Agenten nur so lange
interessant, wie er Geld einbringt, wie er ihn vermarkten kann. Und Kafka
lässt seine Erzählung mit der Information einsetzen, dass das Interesse für
ein solches Schauhungern schon seit einiger Zeit zurückgegangen sei. Damit
bezieht er sich explizit auf die reale Situation Anfang des 20.
Jahrhunderts, als die vorherige, massenhafte Begeisterung für die
Zurschaustellung außergewöhnlicher Erscheinungen mehr und mehr nachließ,
wobei darunter vor allem körperliche Abnormitäten wie Riesen- oder
Zwergenwuchs, tierähnliche Behaarung oder
Menschen mit zusätzlichen Extremitäten
fielen. Der damit bediente Voyeurismus fand vor allem durch den Umbruch des
Ersten Weltkrieges ein Ende.[1]
Kafkas Erzählung befriedigt aber in keinem Fall irgendeine Form von
Voyeurismus; sie nimmt vielmehr eine doppelte Perspektive ein: Auf der
einen, naheliegenden Ebene erregt sie beim Leser „Furcht und Mitleid“, mit
denen er das langsame Sterben der Hauptfigur verfolgt, begleitet vom
gefühllosen Impresario und von ungläubigen Wächtern, die „gewöhnlich
Fleischhauer“ waren (auch Kafkas Großvater war einer). Auf der anderen Seite
haben wir hier kein Folteropfer vor uns, sondern einen Künstler, für den das
Hungern „die leichteste Sache von der Welt“ darstellt. Betrug weist er weit
von sich (in der Realität wurden einige Hungerkünstler als Betrüger
entlarvt), es geht ihm um die „Ehre der Kunst“. Kafka wäre jedoch nicht
Kafka, wenn er es beim bekannten Bild des unverstandenen Künstlers beließe.
Denn dieser hier opponiert nicht, er bleibt ohne Groll für sich und scheint
leise und endgültig verschwinden zu wollen. Doch auch dieses Künstlerbild
wird konterkariert: einmal dadurch, dass der völlige Rückzug auf sich selbst
mit dem Tod bezahlt werden muss, zum andern, als der Hungerkünstler kurz vor
seinem Tod zum ersten Mal in der Geschichte ausdrücklich zu Wort kommt, was
vorher an keiner Stelle geschieht. Denn auf die Frage des Aufsehers, warum
er denn nun eigentlich hungere, antwortet er: „… weil ich nicht die Speise
finden konnte, die mir schmeckt.“ Das nimmt fast wörtlich ein Motiv auf, das
wir aus Kafkas „Verwandlung“ kennen, als das „Ungeziefer“ Gregor Samsa,
veranlasst durch den Wunsch nach der „ersehnten unbekannten Nahrung“, sein
Zimmer verlässt, um der Musik im Nachbarraum zu lauschen – ein Ausbruch, der
in der Vertreibung durch den Vater endet. Dass ausgerechnet die Musik einen
solchen Stellenwert bekommt, wird vielleicht vor dem Hintergrund der oben
zitierten Tagebuchstelle deutlich: die Musik als ein Bereich, den Kafka dem
Schreiben sozusagen opferte.
Und noch eine Parallele zur „Verwandlung“ wird
offenbar, wenn man den „Epilog“ der Erzählung anschaut, denn Kafka lässt den
Hungerkünstler und uns nicht in einem falschen Frieden gehen: In der
„Verwandlung“ ist es die junge Schwester, die nach dem Tod des Käfer-Bruders
aufblüht und „ihren jungen Leib dehnt“, im „Hungerkünstler“ ist es ein
junger Panther, der dessen Rolle übernimmt und vor Leben
strotzt. Aber, und das ist die letzte Volte
Kafkas: Auch dieses Leben ist nicht frei, sondern eingesperrt und wird,
geschützt von den Gittern, begafft.
Wir haben es also mit mehreren Schichtungen
und Brechungen zu tun, wenn wir uns die Wirkung dieser Erzählung
vergegenwärtigen: Da ist einmal die Empathie, aber auch Hilflosigkeit
gegenüber diesem Menschen, der sich langsam auslöscht und vergessen wird,
und auf der anderen Seite das Nachspüren der verschiedenen Facetten des
Künstlertums, die er repräsentiert: das Zurschaustellen und die
Selbstverständlichkeit der Kunst („die leichteste Sache der Welt“), der
Rückzug und doch auch die Sehnsucht nach einer Anerkennung, die er in dieser
Welt nicht findet.
Auch Josefine, die Sängerin, spiegelt diesen
Dualismus: „Wir bewundern an ihr das, was wir an uns gar nicht bewundern“.
Das bedeutet, dass sie als Künstlerin etwas ins Bewusstsein heben kann, was
dem „Volk“ zu selbstverständlich geworden ist, um es als etwas Besonderes
erkennen zu können. Dieser Erkenntnis fördernden Funktion der Kunst stellt
Kafka aber auch hier durchgängig die Skepsis oder gar das Ignorieren des
Künstlertums gegenüber: Man bezweifelt, ob Josefine überhaupt singt, ob es
nicht vielmehr nur ein „dünnes Pfeifen“ ist, und ihr Bemühen um eine „Zeiten
überdauernde, über alles bisher Bekannte sich weit erhebende Anerkennung
ihrer Kunst“ wird ihr vom Volk hartnäckig verweigert. Je mehr sie diese
Sonderstellung herausfordert, desto stärker kehren sich die Positionen um:
Das Volk steht jetzt über ihr, nimmt ihre Erklärungen wahr, „wie ein
Erwachsener in Gedanken über das Plaudern eines Kindes hinweghört,
grundsätzlich wohlwollend, aber unerreichbar.“ Als sie am Ende verschwindet,
bleibt sie „eine kleine Episode in der ewigen Geschichte unseres Volkes“,
was noch dadurch verstärkt wird, dass dieses Volk keine ‚Geschichte treibt‘.
Man mag dieses künstlerische Lebensfazit Kafkas
zunächst als resignativ empfinden, aber hebt er es nicht am Ende doch auch
wieder in einer melancholischen Ironie auf, wenn er Josefine und damit das
Künstlertum so sieht: „erlöst von der irdischen Plage, die aber ihrer
Meinung nach Auserwählten bereitet ist, wird [sie] fröhlich sich verlieren
in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes“?
Peter Marggraf
hat dem Band 15 Gouachen und Zeichnungen
(Grafit, teilweise Buntstift) aus seinen Skizzenbüchern beigegeben, die
jeweils eine einzelne Figur in verschiedenen Positionen zeigen: sitzend,
hockend, liegend, aufgebahrt. Er greift dabei auf länger zurückliegende
Skizzen zurück (entstanden 1986-88), was auch in diesem Fall deutlich macht,
dass er keine nachträglichen Illustrationen zu Texten schafft, sondern
Bilder auswählt, die sich thematisch und gestalterisch mit der Vorlage
berühren, aber darüber hinaus ihre Eigenständigkeit bewahren. Wo liegen die
Berührungspunkte? Die Körper, die Gliedmaßen der Figuren
– sie sind dünn, in die Länge gezogen, ein
kleiner Kopf ist nur in Andeutungen vorhanden. Durch die Querschraffuren an
Armen und Beinen entsteht fast ein Eindruck von Eingeschnürtsein. Oft
verschwindet die Gestalt fast in den sie umgebenden, dicken
Bleistiftstrichen oder aber sie wird von kräftigen Rotflächen
eingeschlossen, die je nach Betrachterperspektive Gefährdung signalisieren
oder aber kräftiges Leben als Gegenpol zu den dargestellten Haltungen der
Figuren.. Wir sehen also auch hier eine Konzentration auf das Körperliche,
oder besser gesagt, auf dessen Bedrohung oder gar sein Verschwinden,
besonders deutlich in den Bildern, auf denen die Figuren liegend dargestellt
sind, sei es im Sarg oder aufgebahrt. Auch die in sich versunkene, hockende
Haltung, bzw. die Arme, die am Körper bleiben, nicht von sich weg und auf
andere weisen, verstärken diesen Eindruck. Wie so oft bei Marggraf erwachsen
diese Figuren aus nur wenigen Strichen, aus der Konzentration auf das
Notwendige, ohne jeden Zierat.
[1] In dem Zusammenhang ist es vielleicht eine Fußnote wert, dass ein
gewisser David Blaine sich 2003 in einen großen Glaskasten sperren
ließ, der neun Meter hoch über der Tower Bridge hing, um dort 44
Tage lang unter dem Motto „Above the Below“ das Schauhungern
sozusagen „wiederzubeleben“. Inwieweit damit auch ein aktueller
Voyeurismus seinen Niederschlag fand, soll hier nicht weiter
verfolgt werden.
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