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„Allfarbig malen auf blauem Grund …“

Else Lasker-Schülers letzter Gedichtband „Mein blaues Klavier“ in einer bibliophilen Neuausgabe der San Marco Handpresse

 

 

 

Gerd Kolter

Ich kann die Sprache
Dieses kühlen Landes nicht,
Und seinen Schritt nicht gehen.


Sie polarisiert bis heute, diese bedingungslose Dichterin: Franz Kafka fand sie „gräßlich“, andere sahen und sehen in ihr die wichtigste deutschsprachige Lyrikerin des 20. Jahrhunderts und eine Kämpferin für die Frauenemanzipation. Die
se extreme Diskrepanz der Urteile über sie ist einerseits ihrer Form der Selbstinszenierung geschuldet, andererseits dem expressionistisch kühnen Ton ihrer Gedichte, dem Risiko der Bilder und Wortschöpfungen, in denen einige Kritiker schon einen Absturz in Schwulst und Überladenheit erkennen wollen.
Nicht nur die Rezeption schwankt zwischen Extremen, sondern auch ihr Leben selbst: Eigentlich wäre sie lieber ein Junge geworden (auch ihr Vater weigerte sich tagelang, ihr Geschlecht zur Kenntnis zu nehmen) und behielt das auch in ihren späteren Phantasienamen bei (Tino von Bagdad, Jussuf von Theben). Es blieb auch nicht bei den bloßen Namen, die sie sich und anderen gab (z.B. Giselheer für Gottfried Benn); vor allem in ihren Briefen wird eine Weltferne deutlich, die sich in eine immer neue Melange von orientalischen, griechischen und germanischen Mythen hineinlebt und ihre Brief- und Lebenspartner dabei miteinbezieht. Auf der anderen Seite wird sie aber immer wieder mit der brutalen Realität konfrontiert und weicht dieser Konfrontation auch nicht aus: Nach der Trennung von ihrem zweiten Mann Herwarth Walden (den Namen hatte auch sie ihm gegeben) ist sie praktisch mittellos und muß mit ihrem geliebten Sohn Paul auf der Straße leben und hungern, ohne sich dadurch aber ihre Kraft – auch für körperliche Auseinandersetzungen – nehmen zu lassen. Im Gegensatz zu lange Zeit in jüdischen Kreisen üblichen Assimilationstendenzen bekennt sie sich offen zu ihrem Judentum, bis sie von Nazi-Schlägern so mißhandelt wird, daß sie ins Exil in die Schweiz flüchten muß. Hier also das Überleben als „Straßenkämpferin“, auf der anderen Seite die große Inszenierung, vor allem bei ihrem Gedichtvortrag – tanzend, mit Flöte und Trommel und in orientalischer Aufmachung. In der Schweiz verbietet ihr die Fremdenpolizei (!) die Ausübung ihres Berufs, den sie in einem Fragebogen als „Dichterin“ angegeben hat (was für eine Groteske!), nach der dritten Reise in ihr Sehnsuchtsziel Palästina gestattet man ihr die Rückkehr nicht mehr. Sie lebt in Jerusalem unter ärmlichen Bedingungen, setzt sich – zunehmend daran verzweifelnd – dennoch für ihr großes Ziel einer Versöhnung von Palästinensern und Juden ein und stirbt schließlich kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in Jerusalem.
Ihren letzten Gedichtband, 1943 in Jerusalem in kleiner Auflage erschienen, widmet sie ihren „unvergesslichen Freunden und Freundinnen in den Städten Deutschlands …“. Er nimmt noch einmal alle Themen auf, die für ihr Leben und Schreiben wichtig waren: die Liebe zu ihrer Mutter und zum früh verstorbenen Sohn, den Verlust der Freunde und Geliebten, Heimatlosigkeit und Einsamkeit im Exil. Und immer wieder taucht die Farbe Blau in den Gedichten auf, jenes romantische Sehnsuchtsmotiv, das sich nicht an einen konkreten Ort binden läßt, sondern für einen erträumten, harmonischen Seelenzustand steht. Typisch dafür das bekannte Titelgedicht des Bandes, schon 1937 im Schweizer Exil, in der Neuen Zürcher Zeitung, veröffentlicht. Alle positiv, harmonisch besetzten (Erinnerungs-)Elemente, das „blaue Klavier“, die „Sternenhände“, die „Mondfrau“ werden durch die zunehmende ‚Verrohung der Welt‘ zunichte gemacht, sprachlich verdeutlicht durch extreme Gegensätze („Ratten“, „Geklirr“, „zerbrochen“). Dennoch bleibt ein kleiner Sehnsuchtsrest, als „Himmelstür“ wörtlich gegen das „Dunkel der Kellertür“ gesetzt – trotz all seiner Unerfüllbarkeit, tatsächlich noch lebend durch diese Himmelstür gehen zu können …
Im Zentrum des Bandes steht das so oft enttäuschte, mächtige und übermächtige Liebesbedürfnis, für das sie eine ganze „Klaviatür“ von Bildern und Tönen aufbietet: zart („Komm zu mir in der Nacht – wir schlafen engverschlungen“), mit den für sie so typischen Wortneuschöpfungen, wenn etwa der Geliebte auf „Siebensternenschuhen“ erwartet wird, oder in üppigen, poetisch riskanten Bildern („im Paradiese trunken blumumblattet“). Nicht umsonst hat sie dem Liebesthema eine eigene Folge von Gedichten mit dem Titel „An ihn“ gewidmet, deren Adressat der leidenschaftlich verehrte Religionsphilosoph Ernst Simon ist. Andere gelten dem über 40 Jahre jüngeren Berner Emil Raas („Mill“), der sie in der Schweiz juristisch vertrat. Untrennbar mit dem Liebesthema verbunden, gerade bei ihr, ist der Liebesverlust – auch in den Erinnerungen an die Mutter und vor allem an den im wahrsten Sinne des Wortes abgöttisch geliebten Sohn: „Die Liebe zu dir ist das Bildnis, / Das man sich von Gott machen darf“. Sein früher Tod im Jahr 1927 führt wiederholt zu Phasen des Rückzugs: „Und meine Augen wenden sich nicht mehr / Der Welt zu; // Das Grün des Laubes tut ihnen weh.“ Dennoch schöpft sie immer wieder auch neue Kraft, selbst in ihrer Verbitterung im Jerusalemer Exil, gründet etwa einen Vortragskreis namens „Kraal“, für den sie unermüdlich Veranstaltungen plant. In den Gedichten aber herrscht ein melancholischer Ton vor, vor allem entstanden aus der Trauer um die eigene Verlorenheit („Längst lebe ich vergessen – im Gedicht“) und die Vorahnung des nahenden Todes: „Ich habe meines Lebens Schlussakkord vollbracht“.
Peter Marggraf hatte sich schon lange mit dem Gedanken getragen, das „Blaue Klavier“ in einer bibliophilen Ausgabe neu herauszubringen. Mit dem nun in kleiner Auflage erschienenen Band steht Else Lasker-Schüler an der Seite einer anderen wichtigen Lyrikerin des 20. Jahrhunderts, Ingeborg Bachmann, von der Marggraf zuvor schon einige Texte in seiner San Marco Handpresse veröffentlicht hatte. Es genügt schon ein etwas genauerer Blick auf die Neuausgabe, um den Aufwand und die Akribie der Herstellung zu ermessen: das Setzen der Texte in Blei auf der Linotype, die parallele Erarbeitung der Radierungen, die Verfertigung des Schutzumschlags, schließlich das Binden des Buches von Hand. Man konnte erwarten, angesichts der Dominanz der Farbe Blau in den Gedichten, daß Marggraf auch den Leineneinband und das Lesebändchen in dieser Farbe gestaltet, ebenso den Titel, der in Großbuchstaben und fett auf das hellbraune Cover bzw. auf das aufgeklebte Titelschild gedruckt ist. Bei der bildnerischen Gestaltung begegnet uns Vertrautes: Die neun Radierungen, eine davon nummeriert und handsigniert als Beilage, zeigen typisch Marggrafsche Figuren in verschiedenen Haltungen und Ausschnitten, mit breitem Strich konturiert, Hintergründe werden lediglich in leichter Schraffur angedeutet. Eine Besonderheit ist aber diesmal das Transparentpapier, das der Künstler vor den auf Zerkall-Bütten abgezogenen Bildern eingefügt hat. Ein buchbinderisch riskantes Verfahren, da sich Transparentpapier leicht wellen kann. Aber es ist gelungen und bietet damit sozusagen einen Doppelblick auf die dargestellten Figuren an, vielleicht angelehnt an den Titel der Blätter: „Hinter der Welt“: Der anfänglich verschwommene „Durchblick“ gewinnt danach in der direkten Anschauung der jeweiligen Figur eine unmittelbarere Präsenz. Ganz gleich, ob Kopf- oder Brustbild, ob ganze Figur, ob wir die Gesichter en face oder in der Seitenansicht betrachten, bei allen scheint mir ein erwartungsvoller, oft flehender Blick charakteristisch – ein Blick, der auch für Lasker-Schüler und die Grundsituation vieler ihrer Gedichte typisch ist. Nicht umsonst erinnern sich viele Menschen, die ihr begegnet sind, vor allem an ihre „nachtdunklen“, glühenden Augen.
Im Jahr ihres 150. Geburtstages ist das Buch nicht nur eine ästhetisch und handwerklich gelungene Würdigung der Autorin, sondern auch eine Einladung zum Lesen oder Wiederlesen ihrer Gedichte.